Arbeitsmarkt: Wer umdenkt, hat die Nase vorn
Die Digitalisierung verändert den Arbeitsmarkt drastisch. Und schafft eine paradoxe Situation. Viele gute Kandidaten suchen nach Jobs. Leider scheinen sie für Unternehmen oft nicht «die Richtigen» zu sein. Ein Grund, warum es für Arbeitgeber und Kandidaten so schwer ist, zusammenzufinden: Viele halten an überholten Erwartungen und Denkweisen fest. Umdenken ist gefragt – und zwar auf beiden Seiten.
Ein Sturm der Veränderungen fegt über den Arbeitsmarkt. Sein Auslöser: Die Digitalisierung. Sie stellt unsere Arbeitswelt geradezu auf den Kopf – und das betrifft sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer.
Überholte Kandidaten-Ansprüche
Die Veränderungen durch die Digitalisierung auf der Arbeitnehmerseite haben mittlerweile auch die «Beletage» erreicht. Wurden früher eher Mid-Level-Positionen Opfer von Restrukturierungen, so betreffen diese heute auch zunehmend die höheren Sphären. Dies hat zur Folge, dass viele gute, vormals erfolgreiche Leute einen Job suchen. Vor allem Generalisten sind heute lange auf Stellensuche.
Viele Kandidaten haben genau diese Entwicklung verpasst und träumen nach wie vor von einem Arbeitnehmermarkt. Ein noch immer weit verbreiteter Anspruch ist etwa, dass ein Stellenwechsel mehr Salär bringen soll. Dieser Anspruch mag für einzelne Profile realistisch sein – in der Masse ist er aber überholt. Die Saläre rutschen. Lohneinbussen von 10 bis 15 Prozent sind keine Seltenheit.
Auch finde ich es immer wieder erstaunlich, wie wenig vorbereitet selbst C-Level-Kandidaten zu Interviews erscheinen: Viele bringen mangelnde Kenntnisse über die Firma mit und manche auch die Unfähigkeit, sich selbst zu reflektieren und zu verkaufen. Anstatt sich wirklich mit dem Stellenprofil auseinanderzusetzen, fokussieren viele Kandidaten darauf, ihren Werdegang zu erläutern.
Zudem bekommen wir in Bewerbungsgesprächen immer wieder Fragen gestellt, die uns stutzen lassen – etwa solche, die sich Kandidaten durch wenig Recherche hätten selbst beantworten können. Zwei bis drei relevante Fragen, die zeigen, dass sich der Kandidat wirklich mit dem Unternehmen beschäftigt hat, sind für uns jedoch ein Muss. Wichtig ist uns allerdings auch, dass Kandidaten ein gewisses Gespür für das Gespräch mitbringen, in dem sie gerade sind. Wenn etwa ein CFO-Kandidat im ersten Gespräch nach Details der Buchhaltung fragt, hinterlässt er bei uns damit den Eindruck, dass er nicht gross und überschauend denken kann.Dieser Eindruck entsteht manchmal auch, wenn es heisst: «Bitte geben Sie uns einen kurzen Überblick über Ihren Werdegang». Kandidaten, die beim Kindergarten beginnen und nach zehn Minuten immer noch nicht weiter sind, sind leider raus. Denn Dynamik und Machertum zeigen sich auch in der Art und Weise, wie jemand eine solche Frage beantwortet.
Fachkräftemangel ist auch hausgemacht
Wie gekonnt Kandidaten ihre Stärken verkaufen, sei also dahingestellt. Doch es gibt sie durchaus: Gute Kandidaten, die auf Stellensuche sind. Ein Paradies für Arbeitnehmer? Nein. Denn die suchen eben genau da, wo Knappheit herrscht: in einem Spezialistenumfeld.
Die Knappheit ist aber teilweise hausgemacht. Denn die Ansprüche an künftige Arbeitnehmer sind immens: Firmen suchen den perfekten Match. Sie wollen keine Generalisten, von denen es so viele auf dem Markt gibt, und sie wollen keine Kandidaten, die sie zuerst einarbeiten müssen. Gesucht wird das perfekte Profil mit dem idealen Grad an Erfahrung.
Gleichzeitig stehen Unternehmen unter Kostendruck. Selbst den Spezialisten, die sie einstellen möchten, können sie oft nicht das Salär zahlen, welches diese gerne hätten. Erschwerend kommt hinzu: Schweizer KMU sind seit der Masseneinwanderungsinitiative tendenziell weniger bereit, Leute aus dem Ausland ins Unternehmen zu holen, welche die Schweizer Kultur nicht kennen. Das begrenzt die Auswahl zusätzlich.
Gratis-Recruiting dank Digitalisierung?
Vielen Unternehmen ist die sich substantiell verändernde Situation auf dem Arbeitsmarkt zu wenig bewusst. Manche Firmen meinen sogar, Digitalisierung bedeute, dass das Finden von Kandidaten nun dank Xing und Linkedin gratis und uneingeschränkt möglich sei. Das Gegenteil ist der Fall: Starke Kandidaten sind hart umkämpft und haben viele Optionen. Die Suche nach dem richtigen Kandidaten ist oft eine abenteuerliche Reise, die auch mal ein halbes Jahr dauern kann.
Was also tun? Umdenken ist gefragt. Und zwar sowohl auf Firmen- wie auch auf Kandidatenseite. Öffnen Sie die Augen! Die Digitalisierung macht unser Leben nicht einfacher, nur weil sie mehr technische Möglichkeiten eröffnet. Passen Sie Ihre Strategie der neuen Situation an. Es gibt dazu verschiedene Ansatzpunkte, gerade für Unternehmen.
Laden Sie auch Kandidaten mit weniger Erfahrung ein
So könnten Unternehmen etwa mehr Flexibilität zeigen, was Kandidatenprofile betrifft. Sie haben einen Kandidaten, der so gar nicht zu passen scheint, weil er nicht genügend Erfahrung mitbringt? Schauen Sie ihn sich trotzdem an. Sie wären nicht die erste Person mit der Erkenntnis: «Der hat es eben doch drauf.»
Oder Sie stellen sich von Anfang an darauf ein, dass die Suche länger dauert und integrieren dieses Wissen in Ihre Recruiting-Strategie. Oder Sie geben sich richtig Mühe, ein toller Arbeitgeber zu sein und machen dies auch sichtbar – das wirkt auf Kandidaten mindestens so anziehend wie ein gutes Salär. Auch HR muss bei den ganzen Veränderungen durch die Digitalisierung mitziehen, was leider in der Realität oft noch nicht der Fall ist: In vielen Firmen steckt HR noch immer in veralteten Strukturen und Technologien fest.
Auch von den Kandidaten wünsche ich mir, dass sie ihre Augen öffnen für die Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt. Sehen Sie hin, auch wenn das, was Sie sehen, nicht Ihrer Wunschvorstellung entspricht. Und dann: Akzeptieren Sie die neue Situation. Passen Sie sich ihr an.
Schärfen Sie Ihr Profil und lernen Sie, Ihre Stärken sichtbar zu machen. Bereiten Sie sich auf Interviews vor: Informieren Sie sich über Ihren potentiellen Arbeitgeber. Überlegen Sie sich gute Fragen. Zeigen Sie, dass Sie den richtigen Drive haben. Machen Sie sich bewusst, welchen Zweck das Gespräch hat, zu dem Sie eingeladen sind, hören Sie zu und antworten Sie präzise auf die Fragen Ihrer Gesprächspartner.
Im Moment scheint es fast so, als würden Arbeitgeber und Kandidaten aneinander vorbeirekrutieren und -bewerben. Beide halten an alten Erwartungen und Denkweisen fest – die es ihnen schwer machen, zusammenzufinden. Das muss aber nicht so bleiben. Der erste Schritt, daran etwas zu ändern, lautet: Umdenken! Und damit können Sie sofort beginnen.